Interview mit Thilo Lenz

Pressereferent der Botschaft von Kanada

An der Botschaft für Kanada in Berlin ist Thilo Lenz verantwortlich für die Pressearbeit. Da er sich außerordentlich gut mit Kanada und der dortigen Schullandschaft auskennt, freuen wir uns sehr, dass er der Redaktion von kanadablog.de für ein Interview zur Verfügung stand. Die Antworten spiegeln die persönliche Sicht von Thilo Lenz wider und sind keine offizielle Auskunft der Botschaft von Kanada. 

 

Hallo Herr Lenz, schön, dass Sie sich Zeit für ein Interview mit kanadablog.de genommen haben. Wir starten gleich mal mitten ins Thema: Weshalb werden High-School-Aufenthalte in Kanada immer beliebter?

Kanada konnte tatsächlich als einziges Zielland im vergangenen Jahr einen Zuwachs der Teilnehmerzahlen verzeichnen. Als Mitarbeiter der Botschaft von Kanada in Deutschland bin ich darüber natürlich sehr froh. Es zeigt, dass das positive Bild, welches Kanada in Deutschland hat, auch konkrete Auswirkungen hat. Die Gründe für die Wahl Kanadas sind bei den Jugendlichen sicherlich individuell verschieden. Das ausgezeichnete Bildungssystem Kanadas als PISA-Gewinner, die atemberaubende Natur und das Leben in lebendigen Städten sind bei der Entscheidung wichtige Faktoren. Es ist natürlich auch hilfreich, dass bei den Kanada-Programmen im Gegensatz zu den meisten USA-Programmen der Zielort relativ genau ausgesucht werden kann. Und zu guter Letzt spielt vielleicht die Popularität von Justin Trudeau auch eine kleine Rolle.

 

Was ist Ihrer Meinung nach der Hauptunterschied zwischen dem kanadischen und dem deutschen Schulsystem?

Beide Schulsysteme sind föderal organisiert, es ist also gar nicht so leicht sie zu vergleichen, weil es auf der deutschen Seite 16 Bundesländer und in Kanada zehn Provinzen und drei Territorien gibt, insgesamt also 29 verschiedene Systeme. In Deutschland hat es in den letzten Jahren sehr viele Veränderungen gegeben. Durch einige Reformen konnten deutsche Schülerinnen und Schüler ihre Leistungen und ihr Verhältnis zum selbstständigen Lernen sicherlich verbessern, und Deutschland schneidet im OECD-Vergleich inzwischen auch besser ab als zu Beginn des sogenannten PISA-Schocks vor 16 Jahren. Andere Reformen hingegen haben viele Schüler und vor allem die Eltern und Lehrer verwirrt. Als Stichwort nenne ich da die teils unübersichtliche Situation beim Thema G8/G9. Ich denke, dass der Hauptunterschied noch immer darin liegt, dass Kanada es besonders gut schafft, Schüler aus sehr unterschiedlichen kulturellen und sozialen Milieus zu integrieren. Die langjährigen Erfahrungen als Einwanderungsland mit klaren Zuständigkeiten sind in diesem Zusammenhang natürlich hilfreich. So besuchen alle Schülerinnen und Schüler einer Altersklasse den gleichen Schultyp und es gibt keine frühe Unterteilung wie in Deutschland, wo sich die Bildungschancen oftmals bereits ab der 5. Klasse stark unterscheiden.

 

Embassy of Canada
Thilo Lenz, Botschaft von Kanada

Unterscheidet sich das Schulsystem von Provinz zu Provinz? 


Die Schulsysteme unterscheiden sich von Provinz zu Provinz weil einerseits die Provinzen unterschiedlich sind in Bezug auf Demographie, Geographie und wirtschaftliche Stärke. Andererseits gibt es einige Unterschiede auf Grund der Zuständigkeit der jeweiligen Bildungsministerien der Provinzen in Bezug auf Entlohnung der Lehrkräfte und Aufbau der Curricula. Die Unterschiede liegen natürlich auch in der unterschiedlichen Ausstattung mit finanziellen Mitteln, so gibt es Provinzen mit höheren Bildungsausgaben pro Kopf als andere. Allerdings überwiegen die Gemeinsamkeiten zwischen den Provinzen, mit der Ausnahme von Quebec, wo es mit Französisch als offizieller Sprache und der Struktur der CEGEPS deutlichere Unterschiede gibt. In Quebec erreichen Schüler erst nach 13 Schuljahren die Hochschulreife, in allen anderen Provinzen beträgt die Dauer 12 Jahre. In Kanada spielen die School Boards auch eine wichtige Rolle, die meistens die Träger der Schulen sind und auch eine demokratische Mitsprache der Bürgerinnen gewähren. Die Schulsysteme unterscheiden sich also nicht nur von Provinz zu Provinz, sondern sogar von School Board zu School Board. Aber gerade in dieser Unabhängigkeit vor Ort liegt eine große Stärke des kanadischen Systems, weil die Verantwortlichkeiten direkt sichtbar sind.

 

Wie sieht der Schulalltag an einer kanadischen Schule aus?

In Kanada sind eigentlich alle Schulen Ganztagsschulen. Insbesondere in ländlichen Gebieten sind die Schulen auch das soziale Zentrum einer Gemeinde, so dass viele extracurriculare Tätigkeiten also Hobbies wie Sport und Arbeitsgemeinschaften auch in den Schulgebäuden stattfinden. Kanadische Schulen verfügen über Schließfächer, Mensen und haben in der Regel einfach mehr Platz, weil sie schon sehr lange Ganztagsschulen sind. Viele diese Errungenschaften, die über amerikanische Highschool-Filme auch Eingang in die Popkultur gefunden haben, gibt es natürlich inzwischen auch in Deutschland. Und der Ausbau der Ganztagsschulen schreitet hierzulande voran. Das breite Kurswahlangebot in Kanada ist ein großes Plus im kanadischen Schulalltag. Nicht selten findet der Unterricht in Kanada auch in Kreativwerkstätten, Computerlabs, Schulküchen oder Autowerkstätten statt. Gerade Gastschüler können von dieser Vielfalt profitieren und Kurse wählen, die es in Deutschland eventuell nicht gibt. Diejenigen, die nach der Rückkehr nach Deutschland in ihre alte Klasse zurück wollen, sollten allerdings auch die Kernfächer nicht vernachlässigen.

 

 

 

Fast alle Gastschüler, die mit Breidenbach Education in Kanada sind, berichten von einem hervorragenden Lehrer-Schüler-Verhältnis. Wie erklären Sie sich das? Was ist das Geheimnis der kanadischen Lehrer?

Zum einen sind Lehrer in Kanada nicht verbeamtet, sie haben einen Arbeitsvertrag mit dem School Board und sind diesem in der Regel auch dazu verpflichtet gewisse Vorgaben zu erfüllen. Außerdem ist in Kanada auch der Grundsatz „No Child Left Behind“ stärker verwurzelt, das heißt, dass Kinder, die eine spezielle Förderung bedürfen, diese in der Regel auch bekommen. 

Darüber hinaus gibt es für die Gastschüler aus dem Ausland, die ja auch eine Schulgebühr bezahlen, eine spezielle Betreuung, die besonders auf die Fragen der Nicht-Kanadier eingeht. Schließlich ist es im Interesse der School Boards, dass sich die Gäste in Kanada wohl fühlen.

 

Inwiefern können deutsche Schüler von einem Auslandsjahr in Kanada profitieren?

Schüler können natürlich sehr unterschiedlich profitieren, je nach Interessen, Ausgangslage und Engagement. Bei eigentlich allen stellt sich ein deutlicher Schub im aktiven Wortschatz und der Beherrschung der englischen Sprache ein. Bei denjenigen, die im französischsprachigen Kanada zur Schule gehen trifft dies natürlich vor allem auf die Französischkenntnisse zu. Vor allem aber hilft das Auslandsjahr dabei, als Persönlichkeit zu reifen, selbstständiger zu werden und sich fern der Heimat selbst besser kennenzulernen. Ein schöner Nebeneffekt und manchmal die am längsten nachwirkende Erinnerung ist der Kontakt zu neuen Freunden und zur Gastfamilie, der oft wie zu einer zweiten Familie wird. Einige Erfahrungen, die man in Kanada macht, kann man tatsächlich nur dort machen und so bleibt das Auslandsjahr für viele ein ganz besonderes Erlebnis, auf das sie lange zurückblicken.

 

 

Was raten Sie deutschen Gastschülern, die nach Kanada reisen?

 

Mein erster Ratschlag ist es, sich den Film „Dein Jahr in Kanada“ in sechs Kapiteln anzuschauen, den wir für Euch auf YouTube veröffentlicht haben unter https://tinyurl.com/yb8yjtpq. Darüber hinaus ist mein Ratschlag, für die Vorbereitung eines Gastschulaufenthaltes in Kanada die Dienste eines deutschen Veranstalters zu nutzen, wie zum Beispiel Breidenbach Education. Von Seiten der Botschaft können wir keinen einzelnen Veranstalter empfehlen, aber wer sich auf Veranstaltungen wie den Jubi-Messen oder den Auf-in-die-Welt-Messen einen Überblick verschafft, bekommt einen guten Eindruck welchem Anbieter er trauen kann. Vertrauen ist ohnehin ein wichtiges Gut bei der Vorbereitung und es ist für die Eltern beruhigend auch einen Ansprechpartner in Deutschland zu haben. Natürlich ist es auch möglich alle Dinge selbst zu regeln und direkt mit einem kanadischen School Board Kontakt aufzunehmen, allerdings spart man dadurch kaum Kosten, und ein Ansprechpartner in Deutschland ist dann nicht vorhanden. Die deutschen Veranstalter mit ihren ehemaligen Teilnehmern können den Gastschülern die besten Ratschläge geben, weil sie aus langjähriger Erfahrung schöpfen. Schüleraustausch gibt es schon recht lange und der beste Ratschlag ist immer noch Vertrauen in sich selbst zu haben, nach dem Motto. „Was andere geschafft haben, das schaffst Du auch!“ Ein weiterer Ratschlag, den ich mir erlauben würde, ist es, nicht jeden Abend mit Deutschland zu skypen oder zu texten. 

 

Kanada ist eine vielfältige Nation, wie schaffen es die Schulen, alle zu integrieren und gleiche Chancen zu bieten?

 

Viele School Boards haben sich dem Thema Integration bzw. Partizipation aktiv verpflichtet. So gibt es zum Beispiel Informationen von der Schulleitung in möglichst vielen Sprachen, damit auch Eltern, die eventuell noch nicht über genügende Englischkenntnisse verfügen, gut informiert sind. Auch tauchen die Feiertage der unterschiedlichen Kulturen und Religionen im Schulkalender auf, um Sensibilität zu schaffen. Kanada hat als Einwanderungsland eine besondere Willkommenskultur. In einer Stadt wie Toronto, in der die Hälfte der Bevölkerung außerhalb Kanadas geboren wurde, greift das Konzept von Mehrheit und Minderheit eigentlich nicht mehr. Da die Menschen aus so vielen Teilen der Erde nach Kanada kommen, gibt es immer weniger eine einzige dominante Kultur und somit auch weniger Zwang zur Integration. Dennoch stellen sich auch viele Kanadier die Frage nach der eigenen Identität und diese Identität kann auch regional sehr unterschiedlich sein, Kanada ist schließlich ein sehr großes Land, das zweitgrößte der Welt. Gemeinsame Werte gibt es natürlich auch, die zum Beispiel in der „Charta der Rechte und Freiheiten“ von 1982 aufgeführt werden, auf die sich sehr viele Kanadier berufen.

 

Was sind ihre persönlichen drei Lieblingsaktivitäten/-erlebnisse in Kanada

 

Meine Lieblingsaktivitäten in Kanada sind Reisen, Menschen treffen und neugierig sein.

 

 

Herr Lenz, ich bedanke mich herzlich für das Interview und die vielen interessanten Informationen.